BISS, Ausgabe April 2024 – Als Anlaufstelle für junge Frauen 1897 gegründet, bietet die Bahnhofsmission heute Menschen jeden Alters und jeder Nationalität Hilfe.
Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof, ein Fernzug steht für die Abreise ins schöne Venedig bereit. Doch im Strom der Reisenden biegen viele Menschen vorher links ab. Sie betreten einen Ort, der mit dem Glanz und Glamour von solchen Städten nichts zu tun hat. Bloß ein paar schlichte Holztische, eine Wartebank, einen Wasserspender, eine Kleiderkammer, drei Beratungsbüros und eine Theke, an der sich Bedürftige kostenlos heiße Getränke und geschmierte Brote abholen: Es ist die Bahnhofsmission München.
Das Gedränge ist an diesem Vormittag groß. Man blickt in müde und verlebte Gesichter; statt großen Reisekoffern tragen viele abgeriebene Plastiktüten mit sich herum. Im Aufenthaltsraum riecht es nach frischem Kaffee und wochenlang getragener Kleidung, eine seltsame Mischung. Einen der Besucher aber scheint das alles nichts anzugehen. Franz Dellinger, 67, sitzt in seinem Rollstuhl mit dem Rücken zu all den Wartenden und stiert aus dem Fenster. „Dellinger, so hieß auch die letzte Hexe, die sie in München verbrannt haben“, stellt der Mann sich vor. „Setzen Sie sich ruhig her.“
Dann erzählt Dellinger, was ihn hierherbringt. Bis vor drei Jahren hatte er noch einen eigenen Handwerksbetrieb mit drei Dutzend Mitarbeitern in München, er war verheiratet und machte Reisen. „Ich hatte ein tolles Leben“, sagt er. Doch jetzt sitze er nun mal hier. In Dellingers Mund fehlen mehrere Zähne, tiefe Falten graben sich in sein Gesicht, die dünnen grauen Haare unter seiner Schiebermütze wachsen nahtlos in einen Vollbart. Sein Blick aber ist hellwach. Dellinger spricht über seine Spielsucht, wie er Betriebseinnahmen im Casino, am Automaten oder auf der Pferderennbahn verzockt hat. Das Unternehmen ging pleite, seine Frau ließ sich scheiden, sein Haus ging verloren, 750 000 Euro Schulden. Bei einem Sturz schlug er sich die Zähne aus, er brach sich den Oberschenkel und landete im Rollstuhl. Es folgten Depressionen, ein Aufenthalt in der Psychiatrie, Selbstmordgedanken. „Ich hatte den Kopf schon in der Schlinge, ich war nur zu feige“, sagt er. Binnen drei Jahren ging alles kaputt. „Ich bin total abgestürzt“, sagt Dellinger selbst.
Menschen mit ähnlichen Geschichten findet man viele in der Münchner Bahnhofsmission. Meist erzählen sie von Süchten, Flucht, Gewalt, gescheiterter Integration und finanziellen Problemen. Der Absturz kommt meist sehr schnell und sehr heftig. Dellinger lebt heut in einer kleinen Sozialwohnung in Messestadt-Ost, er muss mit 400 Euro im Monat auskommen. „Ich hebe sogar Zigarettenstummel vom Boden auf, damit ich was rauchen kann“, sagt er. Die Bahnhofsmission sei ihm angesichts seiner Nöte eine wichtige Stütze. Jeden Vormittag reist Dellinger im Rollstuhl extra mit der U-Bahn an, knapp 45 Minuten. Dann holt er sich eine Tasse Kaffee und beißt wie heute vorsichtig in ein Schmalzbrot, um seine kaputten Zähne und das wunde Zahnfleisch in den Zahnlücken zu schonen. Und natürlich kommt er auch, weil er hier auf Menschen trifft, die seine neue Welt kennen oder zumindest verstehen. „Ich habe hier ein paar Bekannte zum Ratschen“, sagt Dellinger.
„Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt“, hat der Künstler Joseph Beuys mal gesagt. Er könnte damit gemeint haben, dass die Geheimnisse und echten Dramen des Lebens direkt hier in den Ankunftshallen und an den Gleisen der Bahnhöfe zu finden sind, bei Menschen wie Franz Dellinger zum Beispiel. Bahnhöfe stehen schließlich für Aufbruch, aber auch für das Ankommen. Für Zukunftsträume, aber auch die Ungewissheit der Menschen. Für das Etappenhafte und die ständige Bewegung im Leben. Für Menschen, die kein zuhause und keine Mittel haben, sind sie gleichermaßen Orte der Sehnsucht und der Beständigkeit. Sie bekommen Wärme und ein Dach über dem Kopf. Sie können im Strom der Reisenden mitschwimmen, aber trotzdem anonym sein.
Die Zahl der Bedürftigen in der Bahnhofsmission München ist zuletzt deutlich gestiegen. Mehr als 250.000 Kontakte zählte die Einrichtung im Jahr 2023, das war eine Steigerung um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dazu hat sie 30.000 Beratungsgespräche und 1.700 Umsteigehilfen für Kranke, Behinderte und allein reisende Kinder am Gleis geleistet. 25 Festangestellte und mehr als 140 Ehrenamtliche stemmen die Arbeit. Sie haben auch mehr als 3.500 Übernachtungen für rund 800 schutzsuchende Frauen und ihre Kinder im Jahr 2023 ermöglicht. Dafür funktionieren sie den Aufenthaltsraum nachts zu einem Schutzraum um und mieten dauerhaft zwei Hotelzimmer an. Doch dazu gleich mehr.
Man erfährt das alles in einem großen Büro abseits der wartenden Menschen. Es wachsen dort allerlei Pflanzen am Fenster und an den Wänden hängen die Ukraineflagge und ein Trikot von Nationaltorwart Manuel Neuer, der neulich einen Spendenscheck vorbeigebracht hat. Es ist das kleine Reich von Bettina Spahn und Barbara Thoma, den Leiterinnen der Bahnhofsmission. „Wir führen eine Berufsehe. Wir verbringen viel Zeit zusammen“, sagen sie und müssen lachen. Die Einrichtung hat eine Doppelspitze, da sie zu gleichen Teilen von der katholischen und evangelischen Kirche getragen wird, Spahn ist katholisch, Thoma evangelisch. Die finanziellen Mittel kommen zu 80 Prozent von der Stadt München, hinzu kommen Spenden und Gelder aus den Erzdiözesen München und Freising sowie der Evangelischen Landeskirche. Doch sind die getrennten Konfessionen oder andere Barrieren nicht zu spüren. „Wir sind offen für alle Menschen“, sagt Bettina Spahn.
Die Hilfe für junge Frauen stand zunächst im Mittelpunkt, als die Bahnhofsmission in München 1897 als eine der ersten in Deutschland gegründet wurde. Denn Ende des 19. Jahrhunderts kamen massenweise junge Frauen am Münchner Bahnhof an, weil sie in der Stadt nach Arbeit und einem besseren Leben suchten. Doch an den Gleisen wurde die jungen Frauen oft von zwielichtigen Arbeitsvermittlern und Zuhältern abgefangen, um sie als Prostituierte zu verkaufen oder als rechtlose Arbeiterinnen in die Fabriken zu locken. Eine Frauenrechtlerin und spätere Landtagsabgeordnete namens Ellen Ammann hatte die Bahnhofsmission deshalb direkt in der Ankunftshalle eröffnet. Man wollte die Frauen umgehend in Sicherheit bringen.
Mit den Jahrzehnten wuchs das Angebot immer weiter. In den beiden Weltkriegen nahm sich die Bahnhofsmission auch Hungernden, Verwundeten und Kranken an, während der Hyperinflation 1923 richtete sie eine Suppenküche ein. Später lag der Fokus auf ankommenden Gastarbeitern, auf Flüchtlingen aus Jugoslawien und im Jahr 2015 auf Flüchtenden aus aller Welt. Oft spielten sich dramatische Szenen in der Einrichtung ab. Bettina Spahn erinnert an die Situation nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs: „Hier war 14 Tage lang Land unter, die Lage ist eskaliert. Die Menschen kamen zu Tausenden zu uns, wir mussten 100 Notbetten aufstellen und die Dt. Bahn Züge zu beheizten Notquartieren umfunktionieren.“ Barbara Thoma erzählt die Geschichte eines Vaters aus Afghanistan, der nach der Machtübernahme der Taliban mit seinen Kindern am Münchner Hauptbahnhof strandete. Die Mutter hatte es nicht mehr in eines der rettenden Flugzeuge geschafft. „Wir waren hilflos. Das Drama war plötzlich bei uns im Büro“, sagt Thoma. Die Bahnhofsmission sei wie ein Seismograf für politische und gesellschaftliche Krisen auf dieser Welt, betonen die Leiterinnen. Bricht ein Krieg oder ein Flüchtlingsstrom los, bekommen sie das hier wenige Tage später unmittelbar zu spüren.
Notfalls kann die Einrichtung schnelle, unkomplizierte Hilfe leisten. Wie jetzt einer jungen Mutter aus Serbien. Sie kommt mit ihrer acht Jahre alten Tochter und einem Baby in das Beratungsgespräch. Es sind erst fünf Tage des neuen Monats vergangen, doch schon jetzt habe sie nichts mehr auf dem Konto, sagt die Frau. „Ich kann kein Milchpulver für den Kleinen kaufen.“ Die Arbeitsagentur habe zu wenig Geld überwiesen. Die Frau wirkt verzweifelt, auf die Schnelle lässt sich die Sache nicht klären, auch wenn die Beraterin sofort zum Hörer greift und ein paar Anrufe macht. Die Bahnhofsmission zahlt der Frau eine Soforthilfe von 100 Euro in bar aus und leitet ein Gespräch mit der zuständigen Behörde in die Wege. Die Sachbearbeiterin wird nachher erzählen, dass sie immer wieder mit solchen Fällen zu tun hat. Viele Menschen können sich das teure Stadtleben schlicht nicht mehr leisten. Nicht bloß Leute mit Migrationshintergrund, auch alteingesessene Münchner, denen die Rente nicht ausreicht.
Ein Besuch im Lavendelzimmer. Sie liegen in einer Pension unweit des Bahnhofs und tragen blaue Tapeten, deshalb der Name Lavendel. Insgesamt acht Betten stehen in den beiden Zimmern, dazu ein paar Schränke und ein Waschbecken, alles sehr einfach. Die Räume sind ausschließlich für Frauen gedacht, die vorübergehend einen Unterschlupf brauchen. Eine davon ist Natalie Ziemann, die in Wahrheit anders heißt. Sie denkt erst ein paar Minuten darüber nach, ob sie ihre Geschichte erzählen will, denn die 41-Jährige lebt in ständiger Angst. Sie gehört zu einer wachsenden Zahl an Frauen, die in Deutschland unter häuslicher Gewalt leiden. Ihr Ehemann, mit dem sie ein Kind hat, habe sie jahrelang misshandelt und geschlagen, schildert sie. „Ich bin seit einem Jahr auf der Flucht.“
Ziemann hat tiefe Augenringe, sie wirkt mitgenommen, immer wieder beginnt sie zu weinen. Ganze zehn Jahre habe der Mann sie immer wieder grün und blau geprügelt, mehrfach seien die Polizei und der Krankenwagen vorgefahren, doch passiert sei nichts. Vor einem Jahr dann, nachdem ihr Kind in fremde Obhut genommen worden war, wagte sie die Flucht von zuhause, ohne Geld und ohne Mittel. Der Ehemann hielt ihre Bankkarten zurück und ortete ihr Handy, auf ihren Bekanntenkreis übte er immer wieder Druck aus. Seither sei sie sozial isoliert, sie flüchte von einer Einrichtung in die nächste und leide unter Panikattacken, Schweißausbrüchen und Todesangst. Zum Überbrücken findet sie immer wieder Zuflucht in der Bahnhofsmission München. Sie wird dort regelmäßig beraten und kann sich den Leuten anvertrauen. „Ohne die Bahnhofsmission hätte ich schon oft nicht mehr gewusst, wohin. Sie ist mein Schutz. Das Bett hier empfinde ich als Luxus“, sagt die Frau. Es ist eben die fast immer gleiche Erzählung: Die Bahnhofsmission bietet vielen Menschen nicht nur Zuflucht, sondern auch Hoffnung.
Info:
Die Bahnhofsmission liegt an Gleis 11, direkt am Ausgang Süd in der großen Ankunftshalle. Sie hat 365 Tage rund um die Uhr geöffnet. Wer die Einrichtung ehrenamtlich unterstützen möchte, kann sich unter info@bahnhofsmission-muenchen.de melden. Pro Jahr werden zudem vier Stellen für ein Freiwilliges Soziales Jahr und den Bundesfreiwilligendienst ausgeschrieben, die Bewerbungen gehen an barbara.thoma@bahnhofsmission-muenchen.de oder bettina.spahn@bahnhofsmission-muenchen.de. Sehr willkommen sind außerdem Spenden. Sachspenden können zum Beispiel Lebensmittel und der Jahreszeit angemessen Kleidung sein. Vorher wird um einen Anruf unter Telefon 089/594576 gebeten. Für Geldspenden stehen das Konto der Evangelischen (DE30 7002 0270 6540 3281 00) oder der Katholischen Bahnhofsmission (DE 09 7509 0300 0002 1689 79) bereit.